Da sein, Zeit haben, zuhören

Die Kirchengemeinden und pastoralen Räume bilden einen wichtigen Rahmen für die Seelsorge im Bistum Aachen. Die sich wandelnde Lebenswelt unserer Gesellschaft geht allerdings über diesen Rahmen hinaus. Dafür ist das kirchliche Angebot eingerichtet. Seelsorge findet dort statt, wo die Menschen ihrer bedürfen. Das können besondere Orte sein wie Krankenhäuser, psychiatrische Einrichtungen und Gefängnisse. Das kann ein ambulanter Dienst sein für besondere Situationen wie in der Polizeiund Notfallseelsorge und die Seelsorge für Menschen mit Behinderungen. Dazu gehören auch die Angebote der Telefonseelsorge sowie die Flüchtlingsseelsorge, die Citypastoral und die Arbeiter- und Betriebspastoral. Das Bistum Aachen hat für diese Bereiche der sogenannten kategorialen Seelsorge im Jahr 2017 insgesamt mehr als 18 Mio. Euro aufgewendet.

Die nachfolgenden Beispiele richten den Blick auf die Notfall- und Telefonseelsorge sowie auf die seelsorgerische Begleitung von Kranken und Sterbenden. Sie stehen stellvertretend für ein breites Spektrum kirchlicher Arbeit, die auch vom Engagement ehrenamtlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lebt. Und sie verdeutlichen, wie kirchliche Angebote staatliche Versorgungs- und Pflegesysteme ergänzen oder dort wirken, wo entsprechende Netze fehlen.

Christiane Parlings im Gespräch mit einer Patientin im Helios-Klinikum in Krefeld. Mehr als 50 hauptamtliche Krankenhausseelsorgerinnen und -seelsorger sind im Bistum Aachen tätig.
Erste Hilfe für die Seele
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Die Telefonnummern 110 und 112 stehen in Deutschland für die schnelle Hilfe in Notfällen. Wenn Unfälle passieren, Menschen zu Schaden kommen und Gefahr für Leib und Leben besteht, treten Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste auf den Plan. Haben sie ihre Arbeit getan, bleiben oft Menschen zurück, die der Situation hilflos gegenüberstehen: Angehörige, Hinterbliebene, aber auch unbeteiligte Zeugen eines schlimmen Unglücks. Ihnen widmet sich die Notfallseelsorge, die von den Einsatzleitstellen alarmiert wird. 45 an die Rettungsdienste angebundene Gruppen der ökumenischen Notfallseelsorge gibt es in Nordrhein- Westfalen, sechs davon im Bistum Aachen.

Als „Erste Hilfe für die Seele“ bezeichnet Bernhard Krinke- Heidenfels deren Aufgabe. Gemeinsam mit dem evangelischen Pfarrer Ulrich Meihsner koordiniert der Gemeindereferent die Notfallseelsorge Mönchengladbach. Zusammen mit 15 hauptamtlichen Kräften sind rund 30 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Notfällen im Einsatz. „Ohne Ehrenamtliche geht es nicht“, sagt Krinke-Heidenfels, und er meint damit nicht nur die Notfallseelsorge. „Seelsorge wird getragen von allen, die sich der Kirche zugehörig fühlen.“

Jürgen Hermanns ist einer von ihnen. „Sehen, zuhören, aktiv werden“, in dieser Reihenfolge beschreibt er seine Aufgabe vor Ort. Mitunter kann es sinnvoll sein, zunächst einmal Ordnung zu schaffen und Sessel gerade zu rücken oder Kaffee zu kochen. „Dann werden die Menschen ruhiger und fangen meist von allein an zu reden“, weiß Hermanns. „Wir versuchen, in der in Unordnung geratenen Welt eine Struktur zu bilden, die es erlaubt, zur Ruhe zu kommen. Das kann auch ein gemeinsames Gebet sein“, bestätigt Krinke-Heidenfels. Ein Einsatz kann zwei Stunden dauern oder auch sechs. „Ich kann erst gehen, wenn ich sehe, dass mein Gegenüber wieder Boden unter den Füßen gefunden hat“, sagt Pfarrer Meihsner.

Zu mehr als 150 Einsätzen wurde die Notfallseelsorge Mönchengladbach im Jahr 2017 gerufen. Bei einem Drittel der Fälle ging es um häuslichen Tod. Einen hohen Anteil nehmen auch Suizidfälle und Situationen ein, bei denen sich Personen in einer besonderen Krise befinden. Mitunter gibt es für die Seelsorger drei Einsätze pro Tag. Das Schicksal der Betroffenen und der Anblick zum Teil grauenvoller Szenen können belastend sein. „Man muss seelisch und physisch eine gewisse Stärke mitbringen“, sagt Hermanns Kollegin Karin Landgraf. Für sie wie für das gesamte Team gehören Supervision und regelmäßige Fortbildung zum Dienst. Jürgen Hermanns nennt einen weiteren Punkt: „Ohne Glauben kann man vieles nicht aushalten.“

Bernhard Krinke-Heidenfels, Jürgen Hermanns, Karin Landgraf und Pfarrer Ulrich Meihsner (v. l.) vom Team der Notfallseelsorge Mönchengladbach.
Da sein, wenn die Nacht kommt
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Viele Patienten im Krankenhaus finden sich ebenfalls in einer existenziellen Notsituation. Neben das Bangen um die bevorstehende Operation und die Ungewissheit, wieder nach Hause zu kommen, treten die Sorge um die Angehörigen und die Belastung durch mögliche ungelöste Konflikte. „Wer im Krankenhaus liegt, muss mit dieser schwierigen Situation klarkommen“, sagt Pfarrer Christoph Graaff, Krankenhausseelsorger am St.-Antonius- Hospital in Eschweiler. Gemeinsam mit zwei weiteren hauptamtlichen Seelsorgern ist Pfarrer Graaff Ansprechpartner für Patienten, Angehörige und das Personal des katholischen Krankenhauses.

„Je existenzieller das Leben bedroht ist, umso intensiver wird das Gespräch“, weiß Graaff. Da ist zum Beispiel der Herzpatient, den die berufliche Überlastung in die Krise geführt hat und der nun erkennt, dass es so nicht weitergehen kann. Ihm bietet das Gespräch mit dem Seelsorger Perspektiven, die Angehörige und Freunde oft nicht einnehmen können. „Wir begleiten ohne therapeutische Absicht“, erläutert Graaffs Kollege Thomas Kolligs. „Ein Ziel von Seelsorge ist die Entlastung. Wenn die Menschen sagen, es habe ihnen gutgetan, dann habe ich meine Aufgabe erfüllt.“

Bei dieser Aufgabe werden die Seelsorger unterstützt von 30 Frauen und Männern, die ehrenamtlich den Seelsorge- Bereitschaftsdienst für die Nacht übernehmen. Ihr Motto: „Da sein, wenn die Nacht kommt.“ Im Wechsel machen sie sich täglich um 19.30 Uhr auf den Weg über die Stationen und besuchen Patienten. Ein Gespräch kann eine halbe Stunde, aber auch drei Stunden dauern. Im Unterschied zum Pflegepersonal haben die Seelsorger vor allem eines: Zeit.

„Dass wir da sind, senkt auch die Hemmschwelle für die Schwestern, Bedarf anzumelden, um sich bei ihrer schweren und anstrengenden Tätigkeit zu entlasten“, sagt Maria Platz, die wie ihre Kolleginnen und Kollegen für ihre ehrenamtliche Tätigkeit eine sechsmonatige Ausbildung absolviert hat. „Der Aufenthalt im Krankenhaus führt zum Nachdenken über die Gesamtsituation“, bestätigt ihre Kollegin Gabriele Simon. In den Gesprächen am Krankenbett gehe es nicht nur um die akute Krankheit, sondern oft auch um Sorgen und Probleme in der Familie. So zeichnen sich die Krankenhausseelsorge wie auch das Projekt „Da sein, wenn die Nacht kommt“ durch die besondere Nähe zu den Menschen aus und kommt dem Auftrag Jesu nach: „Ich war krank, und ihr habt mich besucht.“ (Mt. 25,36)

Maria Platz (links) engagiert sich ehrenamtlich im Seelsorge- Bereitschaftsdienst des St.-Antonius-Hospitals in Eschweiler.
Wege aus der „-losigkeit“
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Mehr als 50 hauptamtliche katholische Krankenhausseelsorger sind im Bistum Aachen tätig – und das nicht nur in den 27 Krankenhäusern in katholischer Trägerschaft. Auch nicht kirchliche Einrichtungen legen auf das seelsorgerische Angebot großen Wert. Im Helios-Klinikum in Krefeld liegt der Raum der ökumenischen Seelsorge direkt neben der Klinikleitung im Obergeschoss der großen Eingangshalle.

Gemeindereferentin Christiane Parlings gehört hier zum vierköpfigen Seelsorgeteam. Sie setzt bei ihrer Arbeit auf die Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal: „Wenn die Pflegerinnen und Pfleger dem Patienten sagen: ,Ein Gespräch mit der Seelsorgerin könnte Ihnen guttun‘, dann erleichtert das den Kontakt.“ Stationsschwester Yvonne Schmilinsky bewertet die Zusammenarbeit ähnlich. Viele Patientinnen und Patienten auf ihrer Station stehen an ihrem Lebensende. „Gerade bei Patienten mit extremer Diagnose hole ich die Seelsorgerin“, sagt Schmilinsky. „Denn die Seelsorger haben mehr Zeit.“

Und Parlings nimmt sich Zeit. In vielen Gesprächen, die sie führt, kommen nach den naheliegenden Fragen zur persönlichen Situation andere Probleme zum Vorschein – mit dem Partner, mit den Kindern, mit den Kollegen und Anforderungen der Arbeit. „Gewohntes bricht auf, das Podest bröckelt“, sagt Parlings. „Wenn es die Situation ermöglicht, singe ich gern – mit den Patienten und für sie. Mit Musik verbinden die Menschen geborgene Situationen und damit Sicherheit.“

Die Krankenhausseelsorgerin betreut auch Angehörige, die mit der für sie neuen Situation überfordert sind. Einen Schwerpunkt bildet die Trauerseelsorge, die allerdings nicht nur die Angehörigen im Blick hat. „Auch Patienten, die bald sterben werden, trauern“, sagt Parlings. Die Trauer beginne deshalb oft schon mit der Erstellung der Diagnose. Was dann folge, sei die Suche nach Halt, Stabilität, Sicherheit in einem neuen Land, in dem sich der oder die Betroffene orientieren müsse, hilflos, mutlos, perspektivlos, hoffnungslos. „Trauer ist vor allem der Zustand der ,-losigkeit‘“, weiß Parlings.

Da traditionelle Rituale an Bindungskraft eingebüßt haben, muss häufig individuell ein neuer Weg gefunden werden. Sie habe dabei die Aufgabe zu erspüren, was den Menschen in dieser Situation stütze und ihm helfe, betont Parlings. Das gelinge vor allem durch Zuhören und durch das Vermitteln von Ruhe, denn Ruhe gebe Zuversicht. Manchmal schaffe aber auch der vermeintlich verschüttete Glaube Trost und Halt: „In solchen Situationen kommen mitunter alte Gebete über die Lippen.“

Ernst Muhr (links) ist einer von 30 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die für die Patienten „da sind, wenn die Nacht kommt“. Hier bespricht er sich mit Krankenhauspfarrer Christoph Graaff.
Dem Leben so nah
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Vielen Menschen fällt der Umgang mit Trauernden schwer. Und Trauernde fühlen sich oft von den Erwartungen in ihrem Umfeld bedrängt: Mal trauern sie zu lange, mal erscheint die Trauer nicht lang genug. „Trauer ist keine Krankheit“, stellt Dorothee Fazius-Fischer klar. Die Mitarbeiterin des Hospizvereins Rureifel betreut mit zwei weiteren Ehrenamtlichen in Nideggen ein Trauercafé, in dem sie die Angehörigen von Verstorbenen begleitet und dem Gespräch der Trauernden Raum gibt.

Der unabhängige Hospizverein bietet seit 1996 einen ambulanten Dienst zur Sterbebegleitung im Südkreis von Düren in der Nordeifel. „Rund 80 Prozent der Menschen sterben heute nicht zu Hause“, sagt Pastoralreferent Werner Conen. Der Theologe bildet Hospizhelferinnen aus. Der ambulante Dienst lebt maßgeblich von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, derzeit sind rund 40 Männer und Frauen im Verein aktiv.

Sie begleiten rund 30 Sterbende pro Jahr, die meisten von ihnen in Altenheimen. Mit sechs Einrichtungen bestehen Kooperationsverträge, so auch mit dem „Haus Kappen“ in Nideggen. „Wir schicken keinen zum Sterben ins Krankenhaus“, sagt dessen Leiterin Angelika Middendorf. In Abstimmung mit den Angehörigen übernimmt dann der Hospizverein die hospizliche und seelsorgliche Begleitung. Ihr Einsatz entlaste auch Pflegekräfte, versichert Middendorf.

Denn die Hospizhelferinnen nehmen sich Zeit, und das oft über Monate. Und je weiter der Prozess vorangeschritten ist, umso intensiver wird er. Dann finden sich die Ehrenamtlichen mitunter täglich zum Besuch ein.

In den meisten Fällen kommt es zu sehr intensiven Gesprächen, auch wenn die oft viel Anlauf brauchen: „Mit einer Patientin habe ich vier Monate lang nur über Kochen, Backen und Essen gesprochen, und zum Schluss kamen wir dann im inneren Zirkel an“, berichtet Dorothee Fazius- Fischer. „Wir sind bei diesen Gesprächen Gast und nehmen uns zurück. Worüber wir sprechen, bestimmt allein der Patient.“ Dabei geht es allerdings nicht nur traurig zu, es wird auch viel gelacht.

Gemeinsam mit der Koordinatorin Elke Steinau lädt Werner Conen die Hospizhelferinnen zu monatlichen Fallbesprechungen in den Räumen der katholischen Kirche in Nideggen ein. Am Ende des Kirchenjahres nehmen die Ehrenamtlichen und Angehörigen in einer gottesdienstlichen Feier Abschied von ihren Verstorbenen. Die Männer und Frauen des Hospiz Rureifel e. V. erleben ihren Dienst als Bereicherung: „Wir sind dem Leben so nah“, sagt Werner Conen.

Mitglieder des Hospizvereins Rureifel im Altenheim „Haus Kappen“ in Nideggen. Dessen Leiterin Angelika Middendorf (4. von links) schätzt die seelsorgliche Begleitung, wenn Bewohner ihres Hauses in die letzte Lebensphase treten.
Wenn Einsamkeit durch die Leitung kriecht
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Von den Schattenseiten des Lebens zeugen die Menschen, die sich an die Telefonseelsorge wenden. Mehr als 12.000 Anrufe im Jahr 2017 verzeichnet die Telefonseelsorge Düren- Heinsberg-Jülich. Die Stelle, eine von dreien im Bistum Aachen, arbeitet ökumenisch und wird gemeinsam vom Bistum Aachen und vom Evangelischen Kirchenkreis Jülich getragen und von Spenden unterstützt.

Mehr als die Hälfte der Anrufer lebt allein, weiß Stellenleiterin Margot Kranz. Aber auch Probleme mit dem Partner sind häufig der Anlass für ein Gespräch. „Mein Mann hört mir nie zu“, heißt es dann. Vertreten sind alle Milieus und jeder Bildungshintergrund – vom erfolgreichen Manager, der durch einen Unfall völlig aus der Bahn geworfen wurde, über den Mann, der gerade von seinem Arzt die Krebsdiagnose erfahren hat, bis zur alleinstehenden Frau, die sich in höchster finanzieller Not befindet. Gemeinsam ist allen, dass sie in ihrem privaten Umfeld keinen geeigneten Ansprechpartner finden oder gezielt einmal mit einer neutralen Person reden möchten.

„Die Einsamkeit der Anrufer berührt oft sehr“, sagt Kranz. Der Leistungsdruck in Beruf und Gesellschaft verursacht zunehmend seelische Nöte, die die Menschen zum Telefonhörer greifen lassen. Viele Anrufer berichten, dass sie sich damit ihren Freunden nicht mehr anvertrauen können, weil die stets sagen: „Vergiss es doch endlich!“ In den Seelsorgegesprächen geht es indes weder um billigen Trost noch um erschöpfende Lösungen. Im Hintergrund steht meist die Sinnfrage: „Was macht mein Leben eigentlich aus?“

Fast 60 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten bei der Telefonseelsorge Düren-Heinsberg-Jülich. Die Männer und Frauen zwischen 25 und 85 Jahren repräsentieren ein breites berufliches und biografisches Spektrum. Bei ihrem Dienst wahren sie die Anonymität der Anrufer und behandeln die Gespräche streng vertraulich. Auch die Seelsorger selbst bleiben anonym und melden sich nur mit ihren „Dienstnamen“. Lydia leistet oft an Wochenenden Dienst, jeweils vier Stunden. Das Poster an der Wand hinter ihr zeigt ein Telefon. Darüber steht: Wenn Einsamkeit durch die Leitung kriecht. „Manche Anrufer wollen nur reden, dann höre ich zu“, sagt Lydia. Dabei sucht sie einen Ansatzpunkt, der dem Anrufer einen Anker bietet und ihm aus seiner negativen Gedankenspirale heraushilft. Die Gespräche dauern meist eine halbe Stunde. Natürlich gehen sie Lydia oft nah, aber sie empfindet das nicht als Belastung. „Es gibt wenig, was mir nachläuft“, sagt sie. „Meine Kollegen und ich freuen uns, wenn es im Gespräch gelungen ist, die Anrufenden zu verstehen, und ein guter Kontakt zustande gekommen ist.“

12.000 Anrufer haben sich 2017 bei der Telefonseelsorge Düren-Heinsberg-Jülich gemeldet. Die meisten haben niemanden, dem sie ihre Not mitteilen können.